Polyklet: In Vollkommenheit erstarrt

Polyklet: In Vollkommenheit erstarrt
Polyklet: In Vollkommenheit erstarrt
 
Während der Umbruchphase der griechischen Kunst in den mittleren Jahrzehnten des 5.Jahrhunderts v. Chr. haben viele namhafte Bildhauer - sie arbeiteten überwiegend in Bronze - um eine neue überzeugende Gestaltung des menschlichen Körpers gerungen. Einer von ihnen, Polyklet aus der ostpeloponnesischen Stadt Argos, verlegte sich darauf, körperliche Vollkommenheit in einem bis ins feinste Detail durchdachten Zahlensystem zu verewigen. Dieses Ziel hat er erreicht. Sein Name ist schon in der Antike hochberühmt und sein Werk zum Synonym für die Kunst in höchster Vollendung geworden.
 
Von seiner theoretischen Schrift kennen wir im Wesentlichen nur den Namen: »Kanon«, was so viel bedeutet wie Regel, Muster, Richtschnur. Ein Kernbegriff des Kanons hieß »Symmetria«. Damit wird das Bestreben bezeichnet, alle Einzelelemente in sich, zugleich aber auch in ihrem Verhältnis zu den übrigen Teilen in ein harmonisches Maß zu bringen. Es ist bezeichnend für die anspruchsvolle Atmosphäre in jenen Jahrzehnten, dass die Prinzipien des polykletischen Kanons zum Beispiel auch von den Schriftstellern und Rednern als Vorbild betrachtet wurden. Sprache und Gedanken sollten von der gleichen harmonischen Ausgewogenheit geprägt sein, wie die vollkommenen Statuen des Polyklet.
 
Das von Polyklet angestrebte Ideal der vollendeten Schönheit können wir in einigen seiner Werke nachvollziehen. Die Statue eines Speerträgers (»Doryphoros«) ist in so vielen Kopien aus der römischen Kaiserzeit überliefert, dass daraus die Erscheinung der Originalstatue rekonstruiert werden konnte. Was Polyklet unter »Symmetria« verstand, wird schnell erfassbar bei einem Blick auf Arme und Beine des Jünglings: die Last des Körpers ruht überwiegend auf dem durchgedrückten rechten Standbein, während sein linker Fuß spielerisch zurückgesetzt ist. Last und Entlastung werden bei den Armen gegenläufig verteilt: dem linken Arm ist der Speer in die Hand gelegt, die rechte Hand hängt locker herab. Der Ausgleich der Bewegungen ist auch an Schulter und Hüfte ablesbar: der fallenden Linie, die sich zwischen seiner rechten und linken Hüfte bildet, ist die ansteigende Achse im Bereich der Schultern entgegengestellt.
 
Eine Vielzahl von Messungen hat ergeben, dass Polyklet ein dichtes Netz von Proportionswerten ermittelt hat, deren Berücksichtigung zur angestrebten Harmonie führte. Berechnet wurden das Verhältnis des Kopfes zum Rumpf wie auch Position und Gestalt aller Elemente des Gesichts. Solche Zahlenvorgaben wurden ebenso für die Gliederung des Armes, der Hände und eines jeden Fingers entwickelt und sogar auch für Position und Gestalt der einzelnen Lockensträhnen auf dem Haupt.
 
Diese normierte Schönheit bringt es mit sich, dass wir uns heute schwer tun, die Statuen des Polyklet inhaltlich zu bestimmen. Göttern, tapferen Kriegern und erfolgreichen Athleten kam nach antiker Vorstellung in gleicher Weise das Privileg zu, mit dem Prädikat der Vollkommenheit bedacht zu werden. So ist denn die Statue des Doryphoros auch als der Gott Ares, als der heroische Kriegsheld Achill, wie auch als Athlet bezeichnet worden. Eine antike Nachricht legt es nahe, in dem Speerträger ein Bild des Achill zu erkennen.
 
Neben der »Symmetria« spielt in Polyklets Schrift auch der Begriff »Kairos« eine zentrale Rolle. Gemeint ist damit vermutlich die Herausforderung an den Künstler, die Grundregeln des Kanons bei jeder neuen Schöpfung jeweils dem Werk angemessen zum Einsatz zu bringen. Es wäre also grundverkehrt, Polyklet vorzuhalten, er habe eine »Einheitskunst« angestrebt. Jedes seiner Werke stellt vielmehr eine Variation der Grundidee dar. Ein Blick auf die Statue eines siegreichen Athleten (der »Diadumenos«) zeigt, welchen Spielraum Polyklets Kanon zuließ.
 
Wenn uns die Werke des Polyklet heute in ihrem Ebenmaß und ihrem begrenzten Vorrat an Motiven und Themen in gewissem Maße eintönig erscheint, ist auch hier wieder zu bedenken, dass uns der unmittelbare Eindruck der Bronzeoriginale mit ihrer subtilen Oberflächenbearbeitung fehlt, da sie ausschließlich in Steinkopien überliefert sind, die mindestens 500 Jahre jünger sind als ihr Urbild. Einen Einblick in die Kunstfertigkeit zur Zeit des Polyklet gewährt die jüngere der beiden im Meer vor Riace gefundenen Bronzestatuen. Die Binnenzeichnung der Körperoberfläche durch Adern, Muskeln und Nervenstränge, die Ausdrucksstärke des lebendig gestalteten Gesichts fehlen den römischen Kopien. An ihnen lässt sich deshalb nur schwer nachvollziehen, warum Polyklet einen solchen Einfluss auf die Kunst der klassischen Zeit nehmen konnte. Tatsächlich haben sich die Bildhauer bis weit in das 4. Jahrhundert v. Chr. hinein nicht von den Vorgaben Polyklets gelöst. Der große Bildhauer Lysipp, der zum Hofbildhauer Alexanders des Großen avancierte, hat Polyklet freimütig als sein Vorbild bezeichnet.
 
Doch nicht nur die unittelbar nachfolgenden Generationen haben sich auf Polyklet berufen. Vierhundert Jahre nach der Schöpfung des Doryphoros wurde diese Statue erneut Vorbild einer bedeutsamen Bildnisschöpfung. Als Kaiser Augustus seine Machtstellung in Rom gesichert hatte, wollte er das von ihm geschaffene Herrschaftssystem in einem einprägsamen Bild zur Schau stellen. Er hatte das Kunststück fertig gebracht, sich selbst den Rang eines Alleinherrschers zu geben, ohne die in Rom verhasste Monarchie wieder einführen zu müssen. Für dieses kunstvolle Geflecht aus republikanischen Strukturen und Kaisertum gab es keine Vorbilder, bedurfte es aber, um überzeugend zu sein, eines Rückgriffs auf eine ehrwürdige Tradition. Augustus, der seinen Untertanen ein goldenes Zeitalter, ein Leben in harmonischem Zusammenwirken aller Tugenden und Kräfte verheißen hatte, besann sich auf das Grundprinzip des klassischen Kanons: er schuf sein Bild in unmittelbarer Anlehnung an den Doryphoros des Polyklet.
 
Prof. Dr. Ulrich Sinn
 
 
Kreikenbom, Detlev: Bildwerke nach Polyklet. Kopienkritische Untersuchungen zu den männlichen statuarischen Typen nach polykletischen Vorbildern. »Diskophoros«, Hermes, Doryphoros, Herakles, Diadumenos. Berlin 1990.

Universal-Lexikon. 2012.

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